Gülfidan stieg aus ihrem Bett, drückte mit all ihrer Kraft auf den Schalter des klingelnden
Weckers, und massierte sich nochmal ihre Knie.
„Dieser Schmerz hat mich die ganze Nacht nicht ruhe schlafen“.
Sie erreichte das Badezimmer. Wusch sich das Gesicht. Ging dann zum Kinderzimmer. Ihren
ruhig schlafenden Enkelkind sie betrachtete lang und ausgiebig, bückte sich und gab ihm einen
Kuß auf seine Stirn.
“ Er sieht genauso aus wie sein Vater“.
Hakan öffnete seine Augen.
„Steh auf mein Kind, steh auf, du kommst zu spät“.
„Ich möchte noch ein bißchen schlafen Oma“.
„Komm mein Schatz. Steh auf, wasch dich, trink deine Milch, damit wir gehen können“.
Hakan sprang plötzlich auf, rannte ins Badezimmer, trank die Milch, die ihm Großmütterchen
reichte, mit einem Schluck auf.
Bis sie den Bäcker erreichten, ließ sie die Hand des Kleinen nicht los, kauft sie für Hakan ein
Milchbrötchen.
Als sie die Schule erreichten, gab er ihr hastig einen Kuß auf beiden Wangen.
„Tschüß Oma“.
„Sei brav mein Kind. Mach deine Lehrer nicht traurig und versteh dich mit deinen Freunden.
Versprochen?“.
„Mannno, jeden Tag dasselbe : Mach deine Lehrer nicht traurig, versteh dich mit deinen Freunden“.
„Trotzdem. Versprich es“:
„Ja, versprochen“.
Der Junge hob die Hand um seine Freunde zu grüßen und eilte mit ihnen in die Schule.
Gülfidan ging weiter, während sie ein langsames Lied unhörbar, vor sich hin summte.
Am Ende fand sie sich vor den Türen der Fisch-Fabrik wieder, in der sie einst arbeitete. Sie nahm
alle, die aus dem Gebäude hinaus oder hineingingen, einzelnd in Augenschein.
„Ich verlor hier Jahre meiner Jugend, Jahrzehnte meines Lebens, machte die Arbeit für Vier,
wurde dafür von den Meistern sehr geschätzt. „Unsere Gül“ nannten sie mich.
Der Arbeitsplatz war kalt und nass, drei bis vier Strümpfe zogen wir übereinander, doch geholfen
hat es nicht. Später bekam ich ein Zittern in meinen Knien. Nach all den Schmerzen, Spritzen
konnte ich nicht mehr arbeiten. „Komm mit 520 DM aus“, sagen sie nun. Es ist nicht möglich zu
sagen : Kommt und seht selbst zu, wie ihr damit wohl auskommt.“
Auf dem Rückweg ging sie einen anderen Weg und traf Ismail Usta, Ismail den ehemaligen
Schweißermeister.
„Jeden Morgen bringe ich die Kinder zur Schule, um ein bißchen Bewegung zu haben. Weißt du
Gülfidan, der Körper ist harte Arbeit gewohnt.“
„So ist es, mein Bruder, so ist es. Auch ich laufe jeden Tag ein wenig, denn sonst fängt man an zu
rosten, zu schimmeln“.
„Bestell deinem Gatten einen schönen Gruß. Wir vermissen ihn. Er soll auch mal zum Treffen der
Rentner kommen. Dann können wir uns ein bißchen unterhalten“.
Hierauf hat er sich, ohne eine Antwort zu erwarten, umgedreht und ist gegangen. Großmütter-
chen schaute ihm eine Weile nach.
“ Er war ein kräftiger junger Mensch. Er liebte es anderen zu helfen. Als er sein Bein verlor,
veränderte er sich. Nun geht er immer zur Firma, in der er sein Bein verlor. Wandelt um sie rum,
als würde er jeden Tag aufs Neue sein Bein dort suchen.“
Nach diesen Gedanken schüttelte sich Großmütter. Nach einer Weile fand sie sich vor dem
Restaurant wieder und sah dort Hüsnü.
“ Der Paltz des ältesten Kindes im Herzen ist ein besonderer. Gott möge dir helfen mein Kind, du
hast unseren Mühen um dich, gedankt, etwas erschaffen und damit weiteren Menschen noch eine
Arbeit ermöglicht. Zudem gibst du noch denen, die es nötig haben, etwas zu essen. Schon dein
Großvater liebte anderen auf diese Weise zu helfen.“
Gülfidan hob ihren Kopf, betrachtete die Weite des Himmels.
„Dieses furchtbare Wetter macht einem richtig zu schaffen“.
Hierauf stand sie auf, ging in die Innenstadt.
Ismail Usta schlich um die Fabrik herum.
“ Einen Teil von mir habe ich bei der Arbeit lassen müssen. Mein Blut floß auf diese Erde. Als wir
kamen war hier alles wie in einem kleinen, zurückgebliebenen Dorf. Nun ist es eines der reichsten,
mächtigsten Länder. Nicht nur von mir, von tausenden Einwanderern floß das Blut auf diese
Erde.“
Gülfidan erreichte den Supermarkt, kaufte ein. Sinan erblickte sie noch im letzten Moment und
eilte zu ihr.
„Mutter, ich sage dir ständig, daß du in deinem Alter nicht einkaufen gehen und die schweren
Tüten tragen sollst. Sage was du brauchst und ich werde für dich einkaufen gehen oder schicke
einen von den Jüngeren zum einkaufen. Jetzt warte wenigstens, bis ich das Auto geholt habe.“
„Ach, mein Sohn. Dieses bißchen Bewegung tut mir gut. Und was ist das schon für eine Last?
Selbst ein Kind könnte die Tüten tragen, zudem kann ich nicht die ganze Zeit nur in der
Wohnung bleiben. Selbst Hunde müssen am Tag für ein paar Stunden an die frische Luft, sich
bewegen. Geh du nur wieder an deine Arbeit, auch wenn deine Angestellten gute Arbeiter sind.
Auf Wiedersehen“
Ohne auf ihren Sohn zu warten, ging Gülfidan nach Hause, sah sich die an der Wand hängenden
Fotos an. Einzelnd. Das Foto ihres jüngsten Sohnes betrachtete sie lang und ausgiebig.
„Ach, was wäre er nur ohne meine Schwiegertochter, sie sind für einander bestimmt.“
Sie bewegte ihren Kopf von der einen zur anderen Seite, begann zu sprechen :
„Du warst sehr begabt, hättest einen guten Schulabschluß machen können. Aber du wolltest
nicht, du bist der Familie deines Vaters ahnlicher als meiner.“
Sie nahm das Tuch von ihrem Kopf, faltete es, schaute sich erneut die Fotos an. Wieder sprach sie
zu dem Foto ihres jüngsten Sohnes :
„Du hast keinen Schulabschluß gemacht. Deine Brüder haben wenigstens eine Lehre gemacht.
Haben sich einen Arbeitsplatz gegründet, der jedoch nichts mit ihrer Ausbildung zu tun hat. Das
Geschäft läuft gut. Aber wenigstens arbeitest auch du, viele junge Leute tun es nicht, können es
nicht. Die Arbeitslosigkeit hat die einen zu Dieben gemacht, die anderen zu Drogensüchtigen,
weitere zu Alkoholikern. Unser Volk hat ein Sprichwort dafür : Wer nichts zu tun hat, verzapft
alsbald Scheiße.
Ich verstehe nicht, warum der Staat den jungen Menschen kaum hilft. Wissen die Regierenden
den nicht, daß die Jugendlichen, die nichts zu tun haben, sich entweder gegenseitig anfeinden,
oder etwas anstellen, was gegen die Gesetze verstößt?“
Ihre Erinnerungen gingen zurück, an die Zeit in der sie noch arbeitete. Jeden Morgen traf sie
junge Menschen an der Unterführung, die nach Zigaretten fragten, Drogen suchten. Tränen traten
in ihre Augen. Sie ließ sich auf ihren Sessel nieder, schaltete den Fernseher ein.
Sie probierte alle Kanäle aus, der eine zeigte einen Krieg, ein weiterer Fundamentalisten in
Afghanistan, und dem Iran, die geschlagenen, getretenen, schwarz umhüllten Frauen. Keine dieser
Sendungen gefiel ihr.
„Diese Bilder lassen in einem keine Freude aufkommen. Jeden Tag Sendungen, die immer und
immerwieder diese schwarz umhüllten Frauen zeigen. Gerade diese Bilder bauen eine Mauer beim
Zusammenleben mit den Deutschen auf.
Ismail Usta war in seine Wohnung gegangen, versuchte seinen Kindern bei der Erledigung ihrer
Hausafgaben zu helfen. Seine mittlere Tochter schlug plötzlich ihr Buch zu und rief :
„Ich hasse die Schule“.
„Wie kann man die Schule hassen? Wenn ihr nicht das gleiche durchmachen wollt wie wir, dann
müßt ihr einen guten Schulabschluß machen.“
„Es geht auch, wenn Frauen nicht zur Schule gehen“, sagte der kleine Mustafa lachend.
Ismail Usta sah ihn strafend an, fing wieder an zusprechen.
„Was du als Frauen bezeichnest, sind deine Mutter, deine Schwestern Werden, wenn du groß bist,
deine Geliebte, Frau , deine Tochter sein.“
„Vater, mußt du den jeden Witz so ernst nehmen ?“
„Dieser Witz trifft leider eine bei uns weitverbreitete Meinung. Es heißt : Ein Volk, dessen Frauen
nicht lernen, wird sich nie von der Unterdrückung befreien können. Wenn unser Volk gelehrt
wäre, wären wir nicht eine Einwandererfamilie, hätten nicht soviel Leid erfahren müssen.“
„Ist denn einer, der nicht zur Schule gegangen ist, kein Mensch?“
„Natürlich ist er das. Doch es geht darum, wer Befehlsgeber und wer Befehlsempfänger ist. Die
Regierenden, die Firmen besitzenden, sind alles Menschen, die eine hohe Schulbildung haben. Ich
habe über Jahre jeden Tag fast 18 Stunden gearbeitet, wurde den anderen als Beispiel gennant,
mein Gehalt erhöhte sich sogar zwischenzeitlich auf 40 Mark die Stunde. Auch ich habe wie viele
andere dafür gesorgt, daß das Land so wird, wie es ist. Ich konnte meinen Brüdern, Verwandten
sogar Geld in die Heimat überweisen. Und nun? Du siehst welche Schmerzen ich erdulden muß.“
Nach diesen Worten stand er von seinem Stuhl auf, verspürte einen tiefen Schmerz, nicht in
seinem Bein, in seiner Seele.
Gülfidan holte das Fotoalbum, öffnete es. Als ihr Blick auf ein Photo ihrer jüngsten
Schwiegertochter fiel, fing sie an zu erzählen :
„Meine Schwiegertochter ist so schön, wie mein Sohn. Wenn sie Deutsch lernen würde, könnte
sie wenigstens arbeiten. Dann würde sie das, was wir durchgemacht haben, nicht auch erleben
müssen.
Ich selbst werde sie bei der AWO für einen Sprachkurs anmelden. Wenn ein Mensch die Sprache
des Volkes in dem er lebt sprechen kann, erleichtert sich sein Leben sehr. Mann kann mit den
anderen zusammen schaffen, lachen, auf diese Weise bekommt das Leben erst seinen wahren
Geschmack.
Andernfalls fühlt man sich nur wie ein halber Mensch.“
Sie blätterte im Album weiter, ihr Blick fiel auf ein Foto aus der Zeit in der sie nach Deutschland
kam.
„Was war ich damals für eine hübsche Braut. Es war nicht leicht sowohl zu Hause als auch in der
Fabrik zu arbeiten. Der Arbeitsplatz war kalt. Er hat mich krank gemacht. Die Medikament haben
nicht geholfen. Am Ende ist mir meine ganze Schönheit genommen worden. Hat mich in diesen
Zustand gebracht. Jetzt sollen wenigstens nicht meine Kinder leiden. Als wir kamen, konnten wir
die Sprache nicht, kannten die Stadt nicht. Aber die Kinder haben alle Möglichkeiten. Hier ist nun
unsere Heimat. Selbst wenn hier nicht unsere Heimat wäre, was gibt es schöneres als eine Sprache
zu erlernen?“
Gülfidan strich mit ihrer Hand über ein Foto von ihrem ehemaligem Nachbarn Ahmet Kütükcü,
fing an laut und deutlich zu sprechen:
“ Dieser Mann sagte immer : ‚Was soll eine Frau ihre Zeit mit lernen vergeuden.‘ Wie sehr wollte
das Kind, Nursel, lernen. Sie war erfolgreich in der Schule. Doch er brachte sie in die Türkei, hat
sie gezwungen zu arbeiten. Das Kind muß nun in schwarzen Tüchern umhüllt wandeln. Kein
Zeichen von freude soll mehr auf ihren jungen Wangen geblieben sein. Verdammt seien solche
Eltern. Das leben viele tausend Kinder haben sie schon so zerstört. Und noch immer führen einige
diese elendigen Traditionen weiter.“
Ihre Schwiegertochter kam ins Zimmer, küsste sie auf ihre Wangen.
“ Was ist Mutter, suchst du in dem Album deine Jugend? “
„Weiß ich nicht, ich habe nur so geschaut.“
„Mutter, ich werde einiges für das Treffen der frauen vorbereiten. Kann ich dann mit dir dahin
gehen?“
„Natürlich, mein Kind. aber mache dir keine Mühen für heute Abend. Auf dem Weg zum Treffen
können wir beim Bäcker ein, zwei Bleche Kuchen kaufen.“
„Ach Mutter, es macht doch keine Mühen etwas vorzubereiten.“
„Mein Kind, alles was du anfaßt, sollte zu Gold werden.“
Da sie schon in die Küche eilte, hörte sie nicht die letzten Worte, die aus Gülfidan Mund flossen.
Sie stand auf, stellte das Album an seine Platz, nahm die Lieblingskassette iher Schwiegertochter,
legte sie in den Kassettenrecorde ein. Die Stimme von Zülfü Livaneli breitete sich in der ganzen
Wohnung aus.
Gülfidan begann erneut zu erzählen :
„Ich habe drei Schwiegertöchter. Alle drei sind klug. Doch die jüngste hier, hat die schönste art
sich Auszudrücken. Es gibt ein Sprichwort, welches besagt, daß süße Reden selbst eine Schlange
aus ihrem Versteck locken können. Für das vorhandene Glück meiner Söhne sind besonders diese
drei verantwortlich. Wenn nur eine von ihnen Ärger machen würde, würde das Leben der ganzen
Familie wanken. Eine von ihnen ist wertvoller als die andere.“
Ismail Usta sah auf der anderen Straßenseite Zeynel, ging unbemerkt zu ihm. Dieser behielt,
während er in seiner Erzählung fortfuhr, die ganze Zeit den Kran im1 Auge :
„Wenn du nur eine Stunde fehlst, kostet das der Firma mindestens 30.000 DM, haben sie ständig
gesagt. Aus diesem Grund haben wir in den ersten Jahren am Tag ungefähr achtzehn Stunden
gearbeitet. In nur fünf Monaten hatte ich 216 Überstunden. Ach was waren wir damals für
Freunde. Besonders bei der Metallverarbeitung haben wir geschwitzt, und wie. Nicht alle haben
dem Gestank des brennenden Metalles und den Dämpfen standgehalten. Unsere Kleidung hätten
wir auswringen können, draußen, im Winter, wurde unsere nasse Kleidung zu Eis.“
Ismail Usta tippte mit seinem Zeigefinger auf Zeynels Rücken, welcher ihn immernoch nicht
bemerkt hatte. Zeynel erschrak: “ Oh, Usta du bist es. Ich habe dein Kommen nicht bemerkt.“
„Was ist los, Kurde, kontrollierst du wieder deinen Arbeitsplatz ? Machen deine Nachfolger ihre
Arbeit gut ?“
Wieder betrachtete Zeynel den Kran, massierte seine Schulter mit den Händen.
„Dieser Schmerz wird mich noch einmal umbringen Usta. Erzähl mal, wie geht es dir?“
„Bei diesen Witterungen schmerzt mein abgeschnittenes Bein schon, aber ansonsten ist man halt
zufrieden. Die Kinder sind gut in der Schule und gesund. Du siehst auch wieder gut aus, scheint
mir.“
„Dieser Schmerz versucht mich runterzukriegen, doch ich werde ihn besiegen.“
„Die Heimat steckt im Chaos, wie geht es deinen Kindern dort?“
„Sie wissen nie, was der nächste Tag bringen wird, sie leben in ständiger Angst. Ich habe sechs
Kinder, vier hier, zwei dort. Die, die hier leben, haben ihre Heimat hier, die, die dort Leben, ihre
Heimat dort. So wie mir geht es millionen von Vätern und Müttern, ihre Herzen und Sorgen
stecken zwischen den Mühlsteinen.“
„Ahmet Aga, sagt :“Laßt uns in das Land, in dem wir geboren wurden, zurück.“
„Aber wie können wir ? Die Kinder sind hier aufgewachsen, wir haben unsere Jungend hier
gelebt. Nun sind wir wie ausgetrocknete Zitronen, nun müssen wir uns auch hier behandeln
lassen.“
Als sie das Bergmanns-Museum erreichten, ging Ömer mit den beiden zu Peter.
„Deinen ehemaligen Arbeitskollegen Ismail Usta kennst du ja, und das hier ist Zeynel. Ein guter
Freund. Wenn er einst die kurdischen Lieder anstimmte, schmerzte unser aller Herz. Und er war
zudem ein guter Sportler, von den hübschen Mädchen heiß begehrt. er war ein Freund, der das
Böse nicht mochte, hat hart gearbeitet. Sieh ihn dir nun an. Du darfst nicht fragen, was du
geworden bist, du mußt dich fragen, was aus dir noch werden kann…“